1. Künstliche Intelligenz, Herr Boos, wo stehen wir in der Forschung, Entwicklung und Anwendung hier in Deutschland und weltweit?
    • Das kommt auf den Blickwinkel an. Wenn Sie die künstliche Intelligenz meinen, die Sie aus Film und Literatur kennen, also Maschinen die ihrer selbst bewusst sind, eigene Ziele verfolgen oder die ganze Welt beherrschen oder steuern, dann würde ich sagen wir sind bei ziemlich genau 0%, denn wir wissen nicht wie das Bewusstsein funktioniert und durch das bloße Zufügen von Rechengeschwindigkeit wird es nicht zufällig in Maschinen entstehen. Wenn Sie allerdings nach den Möglichkeiten fragen, Prozesse in Firmen, Fabriken, Anlagen autonom von Maschinen durchführen zu lassen, dann stehen wir in der Umsetzbarkeit bei ca. 80% und in Deutschland bei der Umsetzung selbst leider noch recht am Anfang. Aber wir sehen, dass gerade der Mittelstand mit großen Schritten an das Thema herangeht und so sind in Europa schon immer Dinge eingeführt worden.
  2. KI und auch ihr Produkt Hiro tragen dazu bei, dass zukünftig 80% der bekannten Jobs wegfallen, so lese ich. Vielen Menschen macht das Angst, Ihnen nicht. Warum?

    • Es sollte aber auch niemanden wundern, wenn wir von solchen Automatisierungspotenzialen sprechen, denn wenn unsere Fabriken und Firmen gut funktionieren, sprechen wir ja davon, dass alles läuft, wie bei einer gut geölten Maschine. Wir erwarten also, dass unsere Betriebe heute eher maschinell sind. Ich glaube, das ist auch der Grund, warum viele Menschen so unglücklich mit ihrer Arbeit und ihren Aufgaben im beruflichen Leben sind. Darum denke ich, es ist eine gute Idee das möglichst schnell zu ändern und den Maschinen das zu überlassen, was Maschinen gut können und den Menschen eben das, was Menschen gut können. Ich denke, unser Wirtschaftssystem wird sich kurzfristig ändern und damit auch die Themen, die uns als Menschen obliegen. Wir haben doch schon immer unsere eigene Arbeit abgeschafft und Maschinen wurden schon immer gebaut um uns zu übertreffen. Kein Mensch käme auf die Idee, Steine zu einer Baustelle schleppen zu wollen oder von Beruf Kran zu werden. Warum das vielen Menschen Angst macht, ist, weil niemand mit ihnen darüber spricht, was wir morgen tun sollen und werden. In diese Leere tritt die Angst vor dem Unbekannten. Die grundlegende Frage, die uns allen zeigen kann, dass wir eben weder überflüssig noch arbeitslos werden ist doch die „Tun wir alles, was notwendig wäre?“. Und die Antwort ist darauf so klar „Nein“. Die Antwort ist immer „Nein, dafür haben wir keine Zeit!“. Aber wie kann man ernsthaft sagen, dass man für das Pflegen der Alten – die uns erst dorthin gebracht haben, wo wir gerade sind – keine Zeit hat, oder für den Klimaschutz oder dafür eine gesellschaftliche Diskussion zu führen, die auch dem letzten Bewohner unseres schönen Landes klar macht, dass es geschichtlich noch NIE funktioniert hat die Vergangenheit zurückzubringen oder die Gegenwart genau so zu erhalten wie sie ist? Wir haben viel viel viel zu tun und da sich unser Wirtschaftsvolumen nicht ändern muss, wenn wir das nicht wollen, auch viel freies Geld, um Menschen für solche wichtigen Jobs zu bezahlen.
  3. Kreativität wird als die Antwort auf die Herausforderung unsere Zeit, den Umbrüchen, Veränderungen gesehen. Learning by Doing, Start-ups sollen ausprobieren, sie dürfen scheitern. Doch nutzt Deutschland als Land der Tüftler und Denker sein kreatives Potenzial tatsächlich aus? Oder lassen wir es in den Schulen, Universitäten, Unternehmen, Verwaltung verkümmern, weil Kreativität häufig nicht ins Schema passt? Was muss geschehen, damit wir Deutschen Zukunftstechnologien wie KI eher als Chance und nicht (nur) als Bedrohung empfinden?
    • Es ist wirklich witzig, dass Sie die „Tüftler und Denker“ zusammen mit unserer als so deutsch geltenden Beharrung auf dem Alten in einen Satz bringen. Ich finde es als zutiefst undeutsch und uneuropäisch in der Vergangenheit festzuhängen. Es war doch gerade unser Erfindungsreichtum, die vielen großen und kleinen Unternehmer – von denen auch viele gescheitert sind -, die uns an die Spitze der Weltwirtschaft gebracht haben und schon so lange dort halten.Ich würde sagen, es gibt zwei menschliche Eigenschaften, die Maschinen ganz und gar nicht übernehmen können und die vielen neuen Jobs zugrunde liegen und die uns gleichzeitig noch wahre Glücksgefühle bringen. Erstens wäre das, anderen Menschen etwas Gutes zu tun. Denken Sie daran, dass es den meisten Menschen – zumindest, wenn sie keine Soziopathen sind – mehr Freude macht etwas zu verschenken, als etwas geschenkt zu bekommen. Das liegt einfach daran, dass wir als Menschen immer, wenn wir wachsende Gemeinschaften bilden konnten, in denen wir enger zusammengewachsen sind, erfolgreicher waren als vorher. Darum belohnt uns die Biologie für das „zueinander Nettsein“ mit echtem Glück. Nun stellen Sie sich vor, diejenigen, die das zum Beruf machen, wie Krankenschwestern, Köche, Pfleger, etc. werden von uns nicht mehr zum billigsten Lohn, der es ihnen gerade noch erlaubt ihrer Leidenschaft nachzugehen, eingestellt, sondern nach dem Wert bezahlt, den ihre Dienstleistung für den Empfänger hat. Was sind Sie bereit einer kompetenten und mitfühlenden Krankenschwester zu bezahlen, wenn Sie im Krankenbett liegen? Das wird aber erst möglich sein, wenn wir die Produktion und alle Prozesse, die darum liegen weitgehend automatisiert haben, weil sonst kein Geld dafür da ist.Und dann haben wir als zweites die Kreativität. Davon gibt es, denke ich, drei Sorten. Die erste ist die der Künstler, also diejenigen, die aus innerer Überzeugung gegen den Strom schwimmen und damit Veränderung auslösen können. Als zweites gäbe es die Tüftler, die man in Deutschland wohl nicht weiter erläutern müssen. Und als drittes gibt es noch die Pioniere, also Menschen, die um glücklich zu sein, mehr Risiko brauchen. Früher sind diese Menschen auf Schiffe gestiegen und haben die Welt entdeckt oder sie haben zu Fuß die Quelle des Nils gesucht. Und diese Entdeckungen haben sehr viel zu unserem Wohlergehen beigetragen. Heute sind diese Menschen so gelangweilt, dass sie mit Werbung auf dem Rücken aus Satelliten springen und außer ein paar Werbedollars wirklich nichts, aber auch gar nichts zur Gesellschaft beitragen – nicht, weil sie nicht wollten, sondern weil wir irgendwie vergessen haben, dass Risiko dazugehört. Ich glaube in Deutschland stehen wir uns komplett selbst im Weg. Wir haben die Köpfe, die Ausbildung, die fleißigen Menschen, die Firmen, das Kapital und sogar den politischen Rahmen, um wirklich einen Sprung in die Zukunft zu machen, aber wir zieren uns. Und damit wir das nicht zugeben müssen, beschäftigen wir uns mit der noch so kleinsten Debatte, während die anderen Länder sich auf den Weg in die Zukunft machen. Lassen Sie es mich so sagen: Wir können und müssen unsere Schulen, unsere Ausbildung, unsere Serviceleistungen für jeden Bürger, unsere Berufe, kurzum uns selbst immer besser machen. Aber das wird uns nur gelingen, wenn wir endlich als Gesellschaft anfangen, die Zukunft als eine wünschenswerte Option zu empfinden und nach ihr zu streben.

Herr Boos, herzlichen Dank für das Gespräch.

Chris Boos ist Experte für Algorithmen und Künstliche Intelligenz. Seine 1995 gegründete Firma Arago hat die KI-Technologie HIRO (Human Intelligence Robotically Optimised) entwickelt. Sie kann jeden beliebigen Prozess innerhalb eines Unternehmens steuern – von der IT-Automatisierung bis hin zu kompletten Geschäftsvorgängen. In der Öffentlichkeit ist Chris Boos als Redner und Vordenker zu Themen wie die Beziehung Mensch-Maschine, die Art und Weise des gesellschaftlichen Umgangs mit Information und die Zukunft der Arbeit bekannt. Seine Mission ist es, mithilfe von KI das Potenzial von Menschen zu stärken und Freiräume für Kreativität und innovatives Denken zu schaffen. Zudem ist der Teil des Digitalrats der Bundesregierung.

Am 11. Oktober 2018 ist Chris Boos Gast des 43. mediengipfel in Potsdam. Im Gespräch mit Bettina Rust (radioeins) wird er über das Potential von Künstlicher Intelligenz für Gesellschaft und Wirtschaft sprechen. Melden Sie sich jetzt an.

14. September 2018

Fotocredit: © Matt Greenslade/photo-nyc.com