1. Herr Lesevic, strukturelle Veränderungen in Organisationen werden oftmals entweder aus eigenem Antrieb oder aus bestimmten Situationen heraus umgesetzt. Zuletzt hat die Corona-Pandemie dafür gesorgt, dass viele Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen ins Home-Office gewechselt sind. Dies hat vielerorts für Herausforderungen in puncto Arbeitsabläufe, Organisationsstruktur und Vertrauen gesorgt. Wodurch noch lässt sich Ihrer Meinung nach das Potenzial der Arbeitskräfte entfalten? Welche Trends oder Praxisbeispiele gibt es, wie sich Unternehmen neu oder anders strukturieren können?
    • In Punkto Organisation und Zusammenarbeit stehen wir gerade vor einem Wendepunkt, der mit der Veränderung zur industriellen Revolution vergleichbar ist. Durch immer bessere technologische Vernetzung ergeben sich neue Möglichkeiten der Organisation, und die Corona-Pandemie hat die letzte „Quelle des Widerstands“ zu neuen Organisationsmodellen merklich herausgefordert. So lernen wir gerade, dass viele Annahmen, die wir in Bezug auf Mitarbeiter*innen und Zusammenarbeit als gegeben angesehen hatten, nicht halten. Namentlich erleben wir gerade, dass Mitarbeiter*innen auch dezentralisiert und non-lokal gut zusammenarbeiten können und die Manager*in nicht ständig über die Schulter blicken muss, um gute und motivierte Arbeitsergebnisse zu erreichen.
    • Der/die Mitarbeiter/in als emanzipierte, mitdenkende Zelle einer Organisation – statt Zahnrad in der Maschinerie – kommt da als Bild auf. Durch diesen perspektivischen Shift ergeben sich Möglichkeiten der Zusammenarbeit, die besonders in komplexen Umgebungen sinnvoll sind. Gerade der emergierende Ansatz der „Holarchie“ ist hier interessant.
    • Bei der Holarchie geht es darum, die Entscheidungsgewalt und Verantwortung für Arbeitsergebnisse bei den Mitarbeiter*innen selbst statt in der Hierarchie zu verankern und Führung primär als orientierende und unterstützende statt verwaltende und steuernde Funktion zu konfigurieren. Um eine erfolgreiche Holarchie zu gestalten, benötigt es ein klares, nachvollziehbares und sinnvolles Unternehmensziel, formuliert als Mehrwert für unsere Kund*innen, an dem Mitarbeiter*innen ihre Handlungen und Beiträge orientieren können. Zudem benötigt es eine Rückbesinnung auf beziehungsbasierte statt prozessbasierte Zusammenarbeit, was auch kleinere Teams zur Folge hat. Wer sich hierfür interessiert, kann gerne meine Fallstudie zu unserer eigenen Holarchie lesen (https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-030-57642-4_19). Auch das tolle Buch „Reinventing Organisations“ von Frederic Laloux lohnt sich. 
  2. Wie kann man das Potenzial im Team abseits von jeglichen Strukturen entwickeln? Was bedarf es hierfür?
    • Die drei Qualitäten, die es in unserer Zeit der großen Dynamik und Ungewissheit im Team zu kultivieren gilt, sind die kreativ-schöpferische Kompetenz in unseren Mitarbeiter*innen – statt reine Analyse & Exekution –, die positive Konfliktkompetenz und ein selbstbefähigendes Mindset. 
    • Bei der kreativ-schöpferischen Kompetenz geht es darum, unsere Mitarbeiter*innen aus der rein analytischen und operativen Denke herauszuholen und sie stattdessen in ihrer kreativen, strategischen Kapazität zu fördern und zu fordern. Dies ist essentiell, gerade auch mit dem zunehmenden Momentum in der Automatisierung, die eher früher als später analytische und rein exekutive Aufgaben übernehmen wird und somit das “was” noch weiter in den Mittelpunkt von nachhaltigem Wettbewerbsvorteil rücken wird. 
    • Bei der positiven Konfliktkompetenz geht es darum, die Bereitschaft aufzubringen, Dingen wirklich so zu begegnen, wie sie sind, und sich für das, was richtig und sinnvoll ist, ehrlich einzusetzen. Das klingt erstmal selbstverständlich, leider es das aber gar nicht so in hierarchischen Organisationen, wo politisches Navigieren oft prävalenter ist als echte Zielorientierung. Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen positivem und negativem Konflikt: Hier geht es nicht darum, andere dominieren zu wollen, sondern die Bereitschaft aufzubringen, gemeinsam die beste Lösung zu produzieren und dabei dranzubleiben, auch wenn es unangenehm wird.
    • Beim selbstbefähigenden Mindset geht es vor allem darum, die Selbstwirksamkeit zu affirmieren und zu lernen, mental Gewohnheiten, die die Selbstwirksamkeit eingrenzen – z.B. die Opferhaltung oder Sorge – in sich selbst zu managen.
  3. Würden diese Modelle auch für die Kreativwirtschaft funktionieren?
    • Absolut! Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass die Wirtschaft diesbezüglich noch viel von der Kreativwirtschaft lernen kann! So sind Ansätze holarchischer Organisationsmodelle in kreativen Unternehmen oft schon der Standard – was Sinn macht, denn hier ist das notwendige Mindset und die kreativ-schöpferische Kompetenz oft bereits gegeben. Auch ist das beziehungsbasierte Zusammenarbeiten in Unternehmen der Kreativwirtschaft meist ausgeprägter als anderswo. Nichtsdestotrotz geht auch hier mehr und gerade der Sektor sollte die Veränderungen des letzten Jahres unbedingt als Chance verstehen, die eigenen Arbeits- und Organisationslogik positiv in Frage zu stellen, um eine noch bessere, effektivere und lebenswertere Arbeitswelt von Morgen zu gestalten.

 

Juni 2021

Bild: J2C